Erst vor wenigen Wochen wurde der hier präsentierte Text von Heinrich Ludwig im Archiv des Goethe-Hauses in Frankfurt am Main wieder entdeckt. Erschienen 1949 im untergegangenen „Bockenheimer Informations-Anzeiger“, von dem der Autor bislang ebenfalls nichts wusste.
Bockenheim und Goethe.
In diesen Tagen, da fast alles im Zeichen der Goethefeier steht, will auch Bockenheim nicht zurückstehen, und alles das hervorsuchen, was mit dem Heros in Verbindung steht. Schon als Knabe, als der Vater bald nach dem Tode seiner Mutter (1754) das Anwesen mit dem dazu gehörigen schmalen Haus zur Rechten zu einem prächtigen Gelehrten- und Patrizierhaus umgebaut hatte, lernte er den Bockenheimer Steinmetzen David Renfer kennen, der den schönen für die Pumpe im Hofe bestimmten Pumpenstein geliefert hatte. Im Alter von 11 Jahren, als die Franzosen die Stadt besetzt hatten und als zum größten Leidwesen des Vaters der französische Königsleutnant Thoranc bei ihm einquartiert worden war und sein Elternhaus tagein tagaus von Offizieren und Bittenden besucht wurde, hörte er im Jahre 1760 eines Tages, daß zwei Bauernzehntgrafen (Müller von Bockenheim und Pflug von Ginnheim) demütig dem Grafen Thoranc eine Beschwerdeschrift wegen der Wegnahme ihres Zugviehes durch die zu Rödelheim gelegenen Reiter überreichten und fröhlich das Haus verließen, weil ihnen die wohlwollende Behandlung der Schrift versprochen wurde.
Schaut der Knabe aus den Fenstern zum Hofe,so breitete sich vor seinen Augen der herrliche Fruchtgarten des Maintales aus, der sanft zum Gebirge anstieg. Aelter geworden, trieb es ihn, die herrliche Umgebung zu durchwandern. So lernte er das trauliche Jägerhäuschen hinter dem Rebstöcker Wald kennen, das schon damals eine gute Raststätte war und das er für alle Zeiten in die Literatur eingeführt hat; läßt er doch im „Faust“ zwei Handwerksburschen sagen: „Wir gehen hinaus auf´s Jägerhaus“. Freilich muß man sich den Osterspaziergang am Main geschehen denken; aber Goethe, der die schöne Eisbahn auf unseren Dammwiesen gern benutzte, hat auch den idyllisch gelegenen Ort südlich des jetzt verschwundenen Rabenwaldes, jetzt Flugplatzgelände, gekannt.
Eine Schule hatte er nicht besucht. Für seine Bildung sorgten gute Hauslehrer; in manchen Fächern unterrichtete ihn der Vater selbst. Französische Konversation freilich mußte durch Uebung erlernt werden. Die Gelegenheit dazu bot unser Bockenheim. Er erzählt selbst in „Dichtung und Wahrheit“, wie er sich befliß, von Bedienten, Kammerdienern, Schildwachen, Schauspielern Redensarten sowie Betonungen merkte und auch den französische-reformierten Geistlichen gern zuhörte und ihre Kirche um so lieber besuchte, als ein sonntäglicher Spaziergang nach Bockenheim nicht allein erlaubt, sondern geboten war. Die Frankfurter Reformierten warn gewöhnlich in 50-60 Kutschen hierher zur Kirche (später Volkshaus) gefahren, wie der berühmte Lavater in seinem Tagebuch 1774 selber erzählt. Dieser war im Goethehause zu Besuch und predigte am 31. Julius 1774 in der deutsch-reformierten Jakobskirche unter ungemeinem Zulauf. Goethe war dem Gaste zuliebe sicherlich auch anwesend; mehr schon im nächsten Jahre, da er der Bräutigam von der reformierten Lili Schönemann war. Er hat in einer Epistel aus dem Herbst 1775, die an das Ehepaar D´Orville in Offenbach gerichtet, aber doch eigentlich für seine Braut bestimmt war, sich schließlich darüber entschuldigt, weil er nicht oft und gern an ihrer Seite zur Bockenheimer Kirche gefahren ist:
Was hilft mir nun das Glockengebrumm,
Das Kutschengerassel und Leutgesumm;
Was tät ich in der Kirche gar,
Da ich schon einmal im Himmel war,
Ich Hand in Hand mit Engeln saß,
Mich in dem Himmelsblau vergaß,
Das aus dem süßen Auge winkt,
Drin Lieb und Treu Sternlein blinkt?
Was hör ich an des Pfarrers Lehr,
Die doch nicht halb so kräftig wär,
Als wenn ihr Mündlein lieb und mild
Mich über Fluch und Unart schilt!
Das Goethe bald sein Verlöbnis aufhob und dann für viele Jahre bis zu seinem Tod in Weimar als Minister gewirkt hat, ist bekannt. Selten nur sah er Frankfurt wieder, seine Mutter gar 1797 zum letzten Male. Am 20. August dieses Jahres hat er bei seinem dreiwöchigen Aufenthalt die neuen Frankfurter Bauten bewundert, aber auch als leidenschaftlicher Mineraloge die hiesigen Basaltgruben wieder einmal gründlich durchforscht und in seinen Tagebüchern längeres darüber berichtet. Der Bockenheimer Basalt hat nämlich als besondere Eigenheit die Eiseneinschlüsse (daher der Name Spärosiderit). Mein Urgroßvater, der Steinhauermeister Jakob Ludwig, der 1825 tödlich verschüttet wurde, hat darüber keine Erinnerung hinterlassen, wohl, weil der Minister Goethe sich nicht zu erkennen gab.
Von den hier wohnenden berühmten Leuten, die Bockenheim damals beherbergt hat, ist von Freunden Goethes der schwäbische Pfarrerssohn K. F. Reinhardt zu nennen, der zu hohen Ministerstellungen in französischen Diensten gelangt und zuletzt 1816-1929 französischer Gesandter am Bundestag in Frankfurt war und bestimmt (nach Goethe) 1820 hier in Bockenheim gewohnt hat.
Ganz zuletzt ist mir noch eine interessante und merkwürdige Sache bekannt geworden. Es handelt sich um den reichen Frankfurter Schutzjuden Löb Elias Reiß, den Erbauer der ersten Bockenheimer Synagoge, der sich als sachsen-weimarischer Hoffaktor, also als ein Mann von maßgebender Wirkungskraft, beim Herzog Karl Augst, 1766 schon beliebt gemacht hatte, sodaß Goethe in einem Briefe vom 8. August 1782 an seinen Onkel, den Schöffen und Rat Dr. jur. J. Jost Textor zu Frankfurt, im Auftrag des Herzogs bei diesem privatim anfragen mußte, „in wiefern er glaube, daß und auf was Art für gedachten Juden etwas günstiges zu thun sein möchte, der sich um die Angelegenheiten der Eisenachischen und Apoldischen Kaufleute jederzeit besonders bemühet und nun beim Magistrat nachgesucht habe, daß ihm die Erlaubnis, Sonn- und Festtags außer der Judengasse zu gehen erlaubt werde.“ (Damals machte Blanchard seine bekannten Ballonfahrten, die der Jude sich auch gern mit angesehen hätte.) – Ob Goethes Brief Erfolg hatte, steht mir noch nicht fest. Aber der Jude Reiß, dessen Mutter 1707 schon im Judenverzeichnis aufgeführt ist, hat den hiesigen Juden, die bisher im Oberhofe ihre Schule hatten (daher auch der Name Judenhof für ihn in vielen Akten), eine Synagoge erbaut. Es war 1768, 12. Dezember, durch Tausch in den Besitz der Hofreide des Joh. Bollbach gekommen, die er niederlegen ließ, um sich das 1944 leider vernichtete schöne Barockhaus, Bäcker Stricker zuletzt gehörend, und 1769 in dessen Hof auch die neue bis 1870 bestandene Synagoge erbauen zu lassen, die im Erdgeschoß auch eine Gartenstube für Reiß hatte. Der Zugang zur Synagoge geschah durch sein großes Hoftor. Wohnhaus und Schule gehörten lange zusammen und wurden z.B. 1854 mit 6000 Gulden taxiert, als ersteres dem Eisenhändler Gerson Heß später Allerheiligenstraße) zugeschrieben wurde.
Hch. Ludwig